Hirtenbrief unseres Bischofs

Dienstag, 31. März 2020

Liebe Mitchristen,

„Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten,
noch vor dem Pfeil, der am Tag dahin fliegt,
nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht,
vor der Seuche, die wütet am Mittag.“ (Psalm 91)

Seit etwa 2.500 Jahren beten Juden und Christen diesen Psalm. In unserer heutigen westlichen Welt mit einer hochentwickelten Medizin glaubten wir, Seuchen – heute sprechen wir von Epidemien – gehörten der Vergangenheit an. Jetzt  erleben wir, dass dem nicht so ist: Kranke und Sterbende, überlastete Krankenhäuser, Hausarrest aus Angst vor Infektionen, unabsehbare wirtschaftliche Konsequenzen, Sorge um die Menschen in Entwicklungsländern und die Flüchtlinge. Können wir so wie frühere Generationen auf Gott vertrauen? Fühlen wir uns in Gott geborgen?

Mein Blick fällt auf das Bild des Gekreuzigten. Ich habe ein Bild des „Gehülfen“, des Kruzifixes auf dem Hülfensberg vor Augen. Ich denke an die Kreuzigungsdarstellung, die Matthias Grünewald im 16. Jahrhundert für den Altar des Antoniterklosters in Isenheim im Elsass gemalt hat. Die in das dortige Spital aufgenommenen Kranken wurden zunächst vor dieses Bild gelegt, dass Jesus Christus am Kreuz nicht nur mit den Wunden der Geißelung zeigt, sondern auch mit den Symptomen der damals grassierenden Mutterkornvergiftung, die bei vielen zum Erstickungstod führte. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus im Leiden gab den Kranken Kraft und Trost. Wenn der Altar aufgeklappt wurde, wurde das Bild von der Kreuzigung überdeckt von einer Darstellung des auferstehenden Christus, die genauso berühmt geworden ist wie die Kreuzigungsdarstellung. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in der Angst, im Leiden und im Sterben mündet in die Gemeinschaft mit ihm in der Auferstehung. Das ist die unerschöpfliche Quelle des Trostes und der Zuversicht unseres christlichen Glaubens.

In der Passionswoche und in der Osterwoche konzentrieren wir uns auf diese Quelle unseres Glaubens, wir schneiden sie gewissermaßen wieder frei von allem Gestrüpp des Alltags, das sie möglicherweise überwuchert hat. Wir verhüllen die Kreuze, um Jesus Christus auf seinem Leidensweg zu begleiten und seine Auferstehung zu feiern. Es schmerzt viele Christen, die Priester und auch mich selbst sehr, dass wir die Gottesdienste nicht gemeinsam feiern können. Wir halten uns an die behördlichen Maßnahmen, um alte und kranke Menschen zu schonen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Wir wissen, dass es weitaus größere Sorgen gibt bei denen, die erkrankt sind oder die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten und wir hören nicht auf, Gottesdienste zu feiern:

Ich bitte Sie dringend, gerade in diesem Jahr das Gedächtnis des Leidens und des Todes Jesu Christi zu begehen und seine Auferstehung zu feiern. Das geht auch zu Hause. Ich denke nicht nur an die Übertragung von Gottesdiensten und Gebetszeiten im Fernsehen, im Radio und im Internet, sondern ich möchte Sie herzlich einladen, auch zu Hause gemeinsam oder alleine zu beten und zu singen und die rituellen Zeichen der Heiligen Woche auch zu Hause zu vollziehen: Sie können auch zu Hause einem Kruzifix einen besonderen Platz geben. Sollten Sie keines haben, können Sie eines basteln oder malen. Sie können das Kreuz verhüllen. Sie können am Palmsonntag die Matthäuspassion lesen und das Kreuz mit einem grünen Zweig schmücken. Sie können am Gründonnerstag ein Agapemahl feiern mit Brot und Wein. Sie können am Karfreitag die Johannespassion lesen und das Kreuz enthüllen. Sie können in der Osternacht eine kleine Osterkerze zum Kreuz stellen. Sie können die Lieder singen, die Sie mit diesen Tagen verbinden. Auf der Homepage unseres Bistums und in der Kirchenzeitung „Tag des Herrn“ finden Sie viele Anregungen. Ich bin mir sicher: Solche häuslichen Andachten werden Sie intensiver erleben, als wenn Sie den Gottesdienst in der Kirche mitfeiern. Sie werden die biblischen Texte anders hören, wenn Sie sie selbst vorlesen. Sie werden die Liedtexte bewusster wahrnehmen, wenn Sie sie zu Hause singen. Und an diese Erfahrung werden Sie immer denken, wenn wir im kommenden Jahr die Gottesdienste wieder gemeinsam in der Kirche feiern können und die Lieder von der Orgel begleitet miteinander singen können.

In der vorletzten Strophe des Liedes „O du hochheilig Kreuze“ (GL 294) heißt es:
„Zeig deine Kraft und Stärke,
beschütz uns all zusammen
durch deinen heilgen Namen.“

Ich wünsche Ihnen und allen, die zu Ihnen gehören, Gottes Schutz und Segen.
Ihr Bischof Ulrich Neymeyr